Bereits seit den ersten konzeptuellen Vorbereitungsrunden im Jahre 2004 – wir hatten den höchstministeriellen Auftrag „Schule Neu Zu Denken“ - war für mich die Frage nach der besten Form der Anrede offen. Nicht nur aus dem Trümmerhaufen der 68er-Pädagogik ragte das „Du“ als ein möglicher Wegweiser heraus - auch die Erfahrungen in anderen Ländern und Institutionen ließen mich immer wieder an der Überzeugung, ein Lehrer müsse gesiezt werden, um seine Autorität zu gewährleisten, oder einer Konvention Folge zu leisten, zweifeln.
Viele der damaligen Überlegungen und Experimente sind, genau wie die rauschhaften Erfahrungen des ersten Jahres, einer ernüchterten Realität am LGH gewichen. Und doch - jener Zweifel wuchs im Laufe der Jahre. Menschen, die mich täglich und alltäglich umgeben, mit denen ich lange persönliche Gespräche führe, mit denen ich schwimmen, spazieren und ins Theater gehe, die mir sogar mal den Rücken mit Sonneschutz eincremen können, ohne das komisch zu finden – kurz, Menschen, mit denen man in enger persönlicher Beziehung steht, würde ich gerne auf gleicher Augenhöhe ansprechen. Selbst, wenn sie um einiges jünger sind, und obwohl ich ihre Leistungen im Unterricht mit Noten belege.
In der professionellen Diskussion über diesen nur scheinbar kleinen Unterschied der Umgangsformen sieht man sich als Advokat der größeren Nähe oft schwammigen Vorwürfen („Anbiederung“) und Schlagwörtern aus anderen pädagogischen Krisengebieten („Kuschelpädagogik“) ausgesetzt. Ernster sind da schon Befürchtungen zu nehmen, der Vorstoß habe systemische Sprengkraft: Die Entscheidung eines Einzelnen zum ‚Du’ berge eine nicht zu unterschätzende dissoziierende Kraft für ein Kollegium, so die Befürchtung - die ich auch nachvollziehen kann, und die mich letztlich immer von der Durchführung meines Vorhabens abgehalten hat.
Ein weiteres Argument gegen das Duzen lautet folgendermaßen: Es fiele wohl leichter, einem Lehrer „Du Arschloch“ ins Gesicht zu schleudern, als „Sie Arschloch“. Folgt man dieser Logik, begreift man die semantische Hierarchie also als Schutz vor verbalem Angriff. Meiner Meinung nach kann das für Polizisten und Gefängniswärter ein schlagendes Argument sein – in der gegebenen Situation aber würde ich stark dafür halten, einem Schüler, der – berechtigterweise oder nicht - das Bedürfnis verspüren sollte, mich derart zu betiteln, auch die Möglichkeit dazu eingeräumt werden sollte. Und zwar ohne, dass er damit gleich gegen eine weitere Konvention verstoßen muss, und sich in gewisser Weise strafbar macht. Als Erwachsener, als Schutzbefohlener, als Pädagoge kann ich vom beleidigenden Gehalt der Äußerung abstrahieren - und verstehen, dass hinter der Äußerung ein Konflikt steht, den es kommunikativ zu lösen gilt.
Nach viereinhalb Jahren des Abwägens ist nun also meine Entscheidung, getragen vom Kollegium des LGH, gefallen. Ich möchte jedem Schüler des LGH freistellen, mich mit Vor-. Nach- oder Spitznamen, „Du“ oder „Sie“ anzureden, so, wie es der Situation am ehesten entspricht. Ich erhoffe mir davon ein (noch) besseres - weil offeneres - Klima im täglichen Umgang.
Wie die Reaktion auf Schülerseite ausfallen wird, ob das Angebot angenommen wird, und ob es überhaupt etwas verändert – man darf gespannt sein. Einen ersten Eindruck habe ich bereits auf der Kanutour der Klasse 9 bekommen, wo ich den Start meines kleinen Experimentes verkündete (und von der bald noch ausführlich berichtet werden wird).
„Arschloch“ hat im Verlaufe einer Woche des intensiven Miteinanders jedenfalls keiner zu mir gesagt.