Berlin, kurz nach dem Mauerbau. Eine junge Frau wird bei der Rückreise nach West-Berlin aus ihr unbegreiflichen Gründen zum Verhör bestellt. Der Grenzer, dem sie sich gegenüber findet, scheint von einer merkwürdigen Motivation getrieben und stellt seltsame Fragen über ihre Vergangenheit. Was ist es denn, was er von ihr will?
Die Firma Würth aus Schwäbisch Hall produziert bekanntermaßen nicht nur Schrauben, sondern fördert mit der Würth-Stiftung die Wissenschaften und die Kunst. Ganz nach dem aus dem Geschäftsleben stammenden Motto von der belebenden Konkurrenz wird seit 1996 in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen auch ein literarischer Wettstreit ausgerufen. Gesucht werden dabei Beiträge, die ‚überzeugend eigene sprachliche Wege gehen’.
Besonderer Clou der Ausschreibung: Das Thema stellt jeweils ein Schriftsteller von Rang und Namen, der zuvor ein Semester lang an der Uni Tübingen eine die Poetik Dozentur innehatte. So fanden sich neben Günter Grass in jüngerer Zeit zum Beispiel Juli Zeh, Herta Müller, Jonathan Franzen und Daniel Kehlmann in der Rolle des Literaturlehrers wieder. Für den Wettbewerb 2012 stellte Brigitte Kronauer die folgende Aufgabe: ‚Es gibt eine Zeit der Sehnsucht, in der ihr Gegenstand noch keinen Namen trägt.’
Diesen Satz verstand ich zwar erst nach mehrmaligem Lesen, doch das Preisgeld in Höhe von 7.000 Euro war zur Teilnahme ausreichend inspirierend. Je mehr ich allerdings über das Thema nachdachte, umso drängender kam mir eine kleine Episode in den Sinn, die ich eigentlich schon längst einmal erzählt haben wollte. Bislang war ich allerdings nicht über Skizzen hinaus gekommen, und die Frage nach der richtigen Form und Perspektive ließen mich stets unzufrieden die Arbeit daran aufgeben. Das Thema des Wettbewerbs allerdings konnte als ein neuer Ausgangspunkt für die Erzählung jener Begebenheit dienen - und auf einmal fielen die Worte wie von selbst aufs virtuelle Papier.
Zwei Menschen treffen in einem Verhör aufeinander. Ihr Lebensweg könnte unterschiedlicher nicht sein, so wie die beiden deutschen Staaten, in denen sie aufwuchsen, und durch deren Opposition ihr Verhältnis bestimmt ist. Doch geboren wurden sie zur selben Zeit, am selben Ort. Für einen Moment erkennen sie, dass ihre Schicksale, ihre Entwicklung, ihre Sehnsüchte jeweils die des anderen sein könnten. Das Verhör wird zur Begegnung.
Dieser Moment des gegenseitigen Erkennens ist äußerst flüchtig. Das Aufziehen des Vorhangs, der aufglimmende Funken hinter dem Pupillenschleier erfordert eine klare Zuspitzung der Handlung auf diesen Punkt, um als Geschichte zu funktionieren. Andererseits verlangte die Situation nach einer klaustrophobischen, gehetzten Sprache – nicht gerade der Stil, dem ich mich bisher bediente. Doch je mehr die Wortspäne flogen, umso klarer trat die erstrebte Wirkung ein: Im entscheidenden Moment überträgt sich die Sympathie des Lesers von der Protagonistin auf ihren vermeintlichen Gegenspieler. Und der Fokus auf ihre unmittelbare Sehnsucht nach Freiheit verschiebt sich gleichzeitig auf seine, ihm vielleicht noch nicht einmal bewussten, aber umso verständlichere Sehnsucht nach eben dieser.
Unter 1024 Einsendungen wurde als einer von 14 Beiträgen meine Kurzgeschichte ‚Ich auch’ für den Würth-Preis nominiert, und erscheint in der Anthologie zum Wettbewerb im Swiridoff Verlag. Den Preis gewonnen hat schließlich der Schriftsteller und Kolumnist Maxim Biller aus Berlin mit der Geschichte ‚Liebe auf Israelisch’. Ich beglückwünsche den Autor - und bin gespannt darauf, welche namenlosen Sehnsüchte seine Protagonisten durchleiden mussten, und wie sie dargestellt sind.
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