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22.9.08

"Du Arschloch"

Ein pädagogisches Experiment

Die lexikalische Semantik der deutschen Sprache ermöglicht anhand seiner Personalpronomina zwei Abstufungen im zwischenmenschlichen Beziehungsverhältnis. Die gesellschaftliche Norm verlangt dabei, dass eine Respektsperson - zum Beispiel ein Lehrer - aus Höflichkeit gesiezt wird. Die große Nähe und Vertrautheit zwischen Schülern und Lehrern des LGH gehört jedoch zu den Herausstellungsmerkmalen unserer Schule: die Hierarchiepyramide ist flach - aber natürlich trotzdem vorhanden.

Bereits seit den ersten konzeptuellen Vorbereitungsrunden im Jahre 2004 – wir hatten den höchstministeriellen Auftrag „Schule Neu Zu Denken“ - war für mich die Frage nach der besten Form der Anrede offen. Nicht nur aus dem Trümmerhaufen der 68er-Pädagogik ragte das „Du“ als ein möglicher Wegweiser heraus - auch die Erfahrungen in anderen Ländern und Institutionen ließen mich immer wieder an der Überzeugung, ein Lehrer müsse gesiezt werden, um seine Autorität zu gewährleisten, oder einer Konvention Folge zu leisten, zweifeln.

Viele der damaligen Überlegungen und Experimente sind, genau wie die rauschhaften Erfahrungen des ersten Jahres, einer ernüchterten Realität am LGH gewichen. Und doch - jener Zweifel wuchs im Laufe der Jahre. Menschen, die mich täglich und alltäglich umgeben, mit denen ich lange persönliche Gespräche führe, mit denen ich schwimmen, spazieren und ins Theater gehe, die mir sogar mal den Rücken mit Sonneschutz eincremen können, ohne das komisch zu finden – kurz, Menschen, mit denen man in enger persönlicher Beziehung steht, würde ich gerne auf gleicher Augenhöhe ansprechen. Selbst, wenn sie um einiges jünger sind, und obwohl ich ihre Leistungen im Unterricht mit Noten belege.

In der professionellen Diskussion über diesen nur scheinbar kleinen Unterschied der Umgangsformen sieht man sich als Advokat der größeren Nähe oft schwammigen Vorwürfen („Anbiederung“) und Schlagwörtern aus anderen pädagogischen Krisengebieten („Kuschelpädagogik“) ausgesetzt. Ernster sind da schon Befürchtungen zu nehmen, der Vorstoß habe systemische Sprengkraft: Die Entscheidung eines Einzelnen zum ‚Du’ berge eine nicht zu unterschätzende dissoziierende Kraft für ein Kollegium, so die Befürchtung - die ich auch nachvollziehen kann, und die mich letztlich immer von der Durchführung meines Vorhabens abgehalten hat.

Ein weiteres Argument gegen das Duzen lautet folgendermaßen: Es fiele wohl leichter, einem Lehrer „Du Arschloch“ ins Gesicht zu schleudern, als „Sie Arschloch“. Folgt man dieser Logik, begreift man die semantische Hierarchie also als Schutz vor verbalem Angriff. Meiner Meinung nach kann das für Polizisten und Gefängniswärter ein schlagendes Argument sein – in der gegebenen Situation aber würde ich stark dafür halten, einem Schüler, der – berechtigterweise oder nicht - das Bedürfnis verspüren sollte, mich derart zu betiteln, auch die Möglichkeit dazu eingeräumt werden sollte. Und zwar ohne, dass er damit gleich gegen eine weitere Konvention verstoßen muss, und sich in gewisser Weise strafbar macht. Als Erwachsener, als Schutzbefohlener, als Pädagoge kann ich vom beleidigenden Gehalt der Äußerung abstrahieren - und verstehen, dass hinter der Äußerung ein Konflikt steht, den es kommunikativ zu lösen gilt.

Nach viereinhalb Jahren des Abwägens ist nun also meine Entscheidung, getragen vom Kollegium des LGH, gefallen. Ich möchte jedem Schüler des LGH freistellen, mich mit Vor-. Nach- oder Spitznamen, „Du“ oder „Sie“ anzureden, so, wie es der Situation am ehesten entspricht. Ich erhoffe mir davon ein (noch) besseres - weil offeneres - Klima im täglichen Umgang.

Wie die Reaktion auf Schülerseite ausfallen wird, ob das Angebot angenommen wird, und ob es überhaupt etwas verändert – man darf gespannt sein. Einen ersten Eindruck habe ich bereits auf der Kanutour der Klasse 9 bekommen, wo ich den Start meines kleinen Experimentes verkündete (und von der bald noch ausführlich berichtet werden wird).

„Arschloch“ hat im Verlaufe einer Woche des intensiven Miteinanders jedenfalls keiner zu mir gesagt.

6 comments:

Anonymous said...

Verdammt, warum jetzt erst? Der Satz «Du, Ulfi, was zum Teufel ist ein Vektor?» hätte mir sicher jede Menge Freude bereitet.
Naja, ich bin ja mal gespannt auf das Ergebnis deines Experimentes, meine Prognose wäre, dass alle (oder fast alle) beim Sie und «Herr Kaschl» bleiben.

Lieschen said...

Also ich nicht...^^ aber ich fühle mich jetzt mal mit der (so etwa) Mitte deines Posts nicht angesprochen... =)

Anonymous said...

Für viele Schüler, die gerne vom "Sie" zum "Du" wechseln möchten, wird die Umstellungszeit mindestens so lange dauern wie die dann noch verbleibende Zeit, in der sie es anwenden können. Im Gegensatz zum restlichen Kollegium bist du im Vorteil, dass nach dem Experiment-Jahr deine Zeit am LGH abgelaufen ist - da kann man auch schon mal etwas experimentierfreudiger sein.

Von daher: Die Idee ist gut, ich bin auf den Verlauf gespannt, aber es kann nur ein Einzelexperiment sein, da viele andere Pädagogen nicht diesen kumpelhaften Nimbus mit sich führen, den es braucht, damit das auch funktioniert.

Anonymous said...

Ich persönlich glaube, dass das Experiment erst dann wirklich interessant werden würde, wenn sich das gesamte Kollegium dazu entscheiden würde, daran teilzunehmen, und nicht nur du und der Kollege Humrich.

Ich weiß natürlich, dass sich das nicht so einfach machen lässt. Schließlich kann man niemanden zwingen, so "vertraut" mit den Schülern umzugehen und bei einigen Lehrern halte ich das Siezen auch für sehr sinnvoll, da sonst möglicherweise der letzte Rest Respekt verloren ginge. Manche Lehrer haben einfach keine natürliche Autorität oder haben viel an Autorität verloren, wodurch die Distanz, die durch das Siezen entsteht, sehr nützlich und auch nötig sein kann.

Ein anderer Aspekt ist auch, dass nciht alle Lehrer so viel mit den Schülern zu tun haben, wie du. Nicht jeder hat GM-Schüler oder betreut eine WG und auch nicht jeder Lehrer scheint sich für die Schüler als Personen zu interessieren. Bei solchen Lehrern käme es mir auch komisch vor, sie zu duzen, es wäre auch mir eher unangenehm, da ich zu solchen Lehrern nur eine rein schulische Beziehung habe, aber keinerlei persönlichen Kontakt.

Trotzdem finde ich das Experiment gut und spannend. Ich glaube, dass dadurch eine positivere Atmosphäre entstehen kann, die Lehrer mehr als Menschen gesehn werden und deshalba uch mehr zu Vertrauenspersonen und Familienersatz werden können.
Allerdings glaube ich, dass man die wirklichen Veränderungen erst spüren könnte, wenn sich zumindest ein Großteil der Lehrer dafür entscheidet, mit zu machen.

Eine Befürchtung hätte ich allerdings: dass die Leistungen abnehmen, weil viel Distanz verloren geht, was auf privater/persönlicher Ebene ja sehr schön, im schulischen Bereich jedoch kritisch sein kann. Ich persönlich lasse mich lieber von einer Person belehren, die distanziert ist, zu der ich ein klares Lehrer-Schüler-Verhältnis habe. Mit dieser Person möchte ich eigentlich auch nciht auf einer Stufe stehen (auch wenn nur im sprachlichen). Ich glaube aber auch, dass es möglich sein kann, diese Lehrer-Schüler-Verhältnis nur im Unterricht zu pflegen. Wenn ich dich noch im Unterricht hätte, würde ich dort auch weiterhin bei "Herr Kaschl" oder "Mr. K." und "Sie" bleiben. Nur der Lernleistung wegen.
Ich denke, ich könnte es trennen, bin mir da aber nicht sicher. Ist aber auch egal, weil ich ja eh Herrn Exner in Bio habe ;)

Ich hoffe, ich hab mich jetzt nicht irgendwo verrannt oder mir selbst widersprochen, bin aber zu müde und faul, mir meinen Kommentar nochmal durchzulesen ;)

LG, Hanna

Ulf Iskender Kaschl said...

@ Hanna,
danke für deinen reflektierten (und ausführlichen!) Kommentar.

Im Gegensatz zu dir glaube ich, dass der Erfolg des Experimentes nicht von der Anzahl der zur Teilnahme inspirierten Lehrerschaft abhängt. Mir geht es darum, Fronten aufzuweichen, die Grenzen ein wenig zu verwischen. Das Klima zwischen Lehrern und Schülern ist in Deutshchland traditionell feindschaftlich geprägt - Das kommt auch durch diesen Zwang zur Einheitlichkeit (die Reihen fest geschlossen zu halten, umkeine angriffsfläche zu bieten... bei den Lehrern heißt das Kollegialität, bei den Schülern Gruppenzwang.)Dem möchte ich entgegentreten - und die Freiheti einfordern, mit unterschiedlichen Menschen unterschiedlich umzugehen.

Darüber hinaus bin ich der festen Überzeugung, dass die Leistungsbereitschaft in einem guten Klima zunimmt - und die Objektivität bei der Leistungsbewertung auch!
Es fällt mir jedenfalls viel leichter, jemanden zu loben oder zu kritisieren, der weiß, dass ich ihm damit nicht an den Karren fahren möchte, als bei jemandem, zu dem ich nur oberflächlichen Zugang habe.
Sicherlich garantiert das 'Du' keinesfalls einen tiefergreifendes Vertrauen - inflationär genutzt wird es ja selbst nur zu einer Floskel. Deshalb halte ich eben die Möglichkeit, für jeden einzelnen zu entscheiden, wie er/sie anreden bzw angeredet werden will, für die beste Lösung (für mich).

Anonymous said...

Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass es auch von der Anzahl der Lehrer, die mitmachen beeinflusst wird, wie sich das Klima verändert. Schon alleine, weil es dann zur Normalität wird und es nichts Besonderes mehr ist. Mich würde interessieren, was sich dann (nicht) verändern würde.
Aber das kann man ja auch sehen wie man will.

Außerdem ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht an allen Schulen so feindlich. Hier ist das bestes Beispiel dafür... Und es gibt auch andere Schulen, in denen das so ist, und das sind nciht nur Internate. Aber das ist tatsächlich eher die Ausnahme, als die Regel.

Gibt es denn schon irgendwelche Bewertungen oder ein persönlicher Zwischenbericht, was du bisher von dem Experiment hälst?