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9.10.10

Travel Pussies und der Literaturnobelpreis 2010

Eine Autoreise von Stuttgart nach Frankfurt gehört so ziemlich zum langweiligsten, was man sich vorstellen kann. Kein Wunder, dass Kinder auf dem Rücksitz quengeln, während Ehepaare sich dem Scheidungsgrund entgegenstreiten. Das menschliche Gehirn steht nicht gerne still, und irgendetwas Sinnvolles muss man ja schliesslich mit seiner Zeit anfangen.

Doch wie sagte, seit kurzem auch nobelpreiswürdig, Mario Vargas Llosa: 'Das Leben ist ein Sturm von Scheiße, und die Kunst unser einziger Regenschirm'. Bleiben wir beim Sujet und machen bei einen kurzen Besuch in einem Autbahnraststättenabbort die Probe aufs Exempel.

In diesem Zusammenhang sollte ich erwähnen, daß Kondomautomaten in meinem Leben eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Seit mir in der sechsten Klasse die Mutprobe auferlegt wurde, in der Restauranttoilette des örtlichen Karstadt zu warten, bis mindestens drei Zeugen zugegen wären, und dann eine Packung Präser zu ziehen, scanne ich die Angebote in öffentlichen Klos reflexartig. Dabei sind mir in der nun über zwanzigjährigen Studie zumindest zwei erwähnenswerte Trends aufgefallen:

Erstens sind die Kondomverpackungen höchst akkurate Anzeiger des Zeitgeistes. Waren früher dezente Verpackungen in hellblau oder rosarot angesagt, die ihren Inhalt nur im Kleingedruckten offenbarten, vögelten sich in meiner Jugend die Pärchen blondgelockt und weichgezeichnet durch Weizenfeldlandschaften. Eine Revolution waren dann Anfang der Neunziger die Billie Boys, die 'frechen anderen' Kondome, welche mit ihren lustigen Farben die Botschaft vermittelten, dieses ganze Sex-Ding wäre im Prinzip so einfach und unschuldig wie Smarties essen - im Rückblick eine bodenlose Frechheit. Heutzutage müssen die Verhüterlis offenbar wieder etwas verruchter daher kommen, um ihre Käufer anzusprechen, im Moment machen auf den Autobahnraststätten vor allem diejenige Kondome das Rennen, die die Grenzen zur pornografischen Darstellung sowie der Plausibilität der Körpermaße immer mehr überschreiten. Bei dem Overflow an Sex, Erotik und Fantasyliteratur auf allen medialen Kanälen irgendwie auch verständlich.

Travel-Pussy oder Seemannsbraut.
Auch nicht aufregender als eine Thermosflasche voller Hackfleisch. (Foto: Wikipedia)

Zweitens scheint die Kondomindustrie ihre besten Zeiten deutlich hinter sich gelassen zu haben. Wuchsen die Kondomautomaten spätestens nach dem AIDS-Schock der achtziger Jahre immer mehr in die Breite, und überforderten den scheuen Toilettenbesucher mit der Qual der Wahl zwischen Bananen- oder Lakritzgeschmack mit/und/oder ohne Krokodilnoppen, so ist aktuell ein dramatischer Rückgang der Gummidiversität zu beklagen. Die News from Nowhere Schnellstudie ergab: von durchschnittlich acht bis zehn Kondomautomatenschächten sind gerade mal zwei (!) noch mit Kondomen belegt. Daneben findet sich diverses Sexspielzeug, Gleitgels, Minivibratoren und essbare Unterwäsche aus Zuckerperlen, sowie Zahnbürsten, wobei die beiden letztgenannten Produkte ja zumindest irgendwie kausal zusammen hängen. Auf der Überholspur ganz weit vorne liegt allerdings ein Produkt namens Travel Pussy, das stets mit mindestens zwei Schächten vertreten war. Was wiederum den traurigen Schluß nahe legt, dass in Deutschland mehr gewichst als gevögelt wird - nun gut, hatten wir da wirklich etwas anderes erwartet?

Was bleibt nun als Erkenntnis? Kunst, verstanden als die Freiheit, die Wunder und Rätsel des täglich-alltäglichen Lebens per kreativer Inputprozessierung in Geschichten zu verwandeln, erklärt uns die Welt. Die Wahrheit mag dabei unter Umständen auf der Strecke bleiben, doch wen kümmert das schon - solange man der Versuchung wiedersteht, eine Religion zu gründen oder sonstwie Deutungshoheit beansprucht. Im erfrischenden Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozess muss man auch nicht ewig klare Flüssigkeiten ineinander schütten oder Computerdaten auswerten, um die euphorisiernede Wirkung des Heureka Gefühls zu kosten.

Q.E.D.

Muchas gracias, Senor Llosa, y felicidades!

2 comments:

Thierry Luescher said...

Ulf, I'm just reading the book, have hit about page 120 or so last night, and I am loving it! It's beautiful, captivating, intelligent, always a bit disturbing; Having lived in Cape Town from 1995 till now (originally from Switzerland), I am shocked how fast one forgets about how things were - the good, the bad and the ugly - in the late 1990s and how far we have come. I think you capture that very well.
Cheers,
TML

Anonymous said...

Zur Anregung.

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